schweizer kammermusik
romantiker aus zwei jahrhunderten
Die Entstehung des vorliegenden Albums ist eng verknüpft mit jener der CD «Swiss Clarinet Music» (Musiques Suisses NXMS 7002), die wir im Sommer 2020 als Reaktion auf den Lockdown während der Corona-Pandemie einspielten. Im Zuge der Recherche für das damalige Projekt waren weitere Partituren zum Vorschein gekommen, die bislang kaum Beachtung gefunden haben. Fünf dieser Werke, komponiert von Johann Carl Eschmann, Paul Juon, Richard Flury und Paul Müller-Zürich, sind hier versammelt. Ihnen allen gemeinsam ist – ungeachtet ihrer über ein Jahrhundert verteilten Entstehungsdaten – eine tiefe tonsprachliche Verwurzelung in der Romantik und Spätromantik.
Johann Carl Eschmann (1826–1882)
Zwei Fantasiestücke op. 9 für Klarinette und Klavier (1850–51)
Der gebürtige Winterthurer Johann Carl Eschmann war Schüler Felix Mendelssohns, mit
Wagner und Brahms befreundet und zählte einst zu den bekannten Persönlichkeiten des
Zürcher Musiklebens. Nach seinem Tod geriet er jedoch rasch in Vergessenheit. Seit
den 1980er-Jahren taucht sein Name in der Musikforschung punktuell wieder auf, sein
kompositorisches Werk aber, das in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt wird, gilt es
noch grösstenteils wiederzubeleben.
Seine Lehre bei Mendelssohn (und später Ignaz Moscheles) absolvierte Eschmann zwischen
1845 und 1847 in Leipzig. Zuvor hatte er in Zürich bei Alexander Müller, einem Freund
Wagners, Klavierunterricht genossen. Zur persönlichen Bekanntschaft Eschmanns mit
Wagner kam es, nachdem letzterer 1849 nach Zürich geflüchtet war. Die beiden sollen sich
regelmässig begegnet sein, mehrmals auch im Kontext der Allgemeinen Musikgesellschaft
Zürich (AMG). Eschmann trat in deren Konzerten gelegentlich als Pianist auf, Wagner
wiederum war mehrere Jahre Gastdirigent der AMG.
Wie sehr Johannes Brahms Eschmann schätzte, zeigt ein Brief an den Verleger Simrock vom
April 1878, in welchem er die Musik des Schweizer Kollegen in glühenden Worten pries. Wenig
später wurde Eschmanns Klavierzyklus Licht und Schatten op. 62 bei Simrock veröffentlicht.
Seine zwei Fantasiestücke op. 9 entstanden um 1850 und erinnern stellenweise an Schumann
und Mendelssohn, bisweilen auch an Wagner. Im Vordergrund steht jedoch eine Tonsprache,
die deutlich individuelle Züge trägt und das Ohr mit überraschenden harmonischen
Wendungen und einer grosszügigen Melodieführung verwöhnt. Die beiden Stücke gehen
nahtlos ineinander über, und die auf die Romanze folgende verkürzte Reprise des ersten
Satzes unterstreicht die zyklische Anlage des Werkes.
Paul Juon (1872–1940)
Trio a-Moll op. 17 für Klarinette (original: Violine), Violoncello und Klavier (1901)
Zwei Stücke op. 25 für Klarinette und Klavier (1902)
Paul Juon kam 1872 in Moskau zur Welt. Sein Grossvater, ein Zuckerbäcker aus Masein
(Graubünden), war ungefähr 1830 nach Russland ausgewandert. Juon studierte am Moskauer
Konservatorium bei Jan Hřímaly, Sergei Tanejew und Anton Arenski sowie bei Woldemar
Bargiel in Berlin, wo er 1896 mit dem Mendelssohn-Preis für Komposition ausgezeichnet
wurde. Von 1896 bis 1897 unterrichtete er am Konservatorium von Baku, danach kehrte
er nach Berlin zurück, wo er 1906 von Joseph Joachim als Kompositionsprofessor an die
Hochschule für Musik berufen wurde. Er heiratete 1912 Marie Hegner-Günthert (1874–1957),
die frühere Ehefrau des 1907 verstorbenen Basler Komponisten Otto Hegner. Zusammen
hatten sie drei Kinder, seit 1934 lebten sie in Vevey.
Juon komponierte in einem eigenständigen spätromantischen Stil. Von einem geistreichen
Zeitgenossen wurde er als «das fehlende Glied zwischen Tschaikowsky und Strawinsky»
bezeichnet. Expressivität, polyrhythmische Elemente, vom slawischen Volkslied beeinflusste
Themen und ein ausgeprägter Klangfarbenreichtum charakterisieren seine Musik.
Einige seiner Werke hat Juon sowohl für Klarinette als auch für Violine oder Viola
herausgegeben. Die spärlichen Hinweise, dass auch vom Klaviertrio op. 17 eine alternative
Fassung existieren soll, konnten zwar bislang nicht erhärtet werden. Aber sein elegischer
Charakter und die stilistische Nähe zu den Klarinettentrios seiner Zeitgenossen Wilhelm
Berger, Carl Frühling oder Alexander von Zemlinsky laden geradezu ein, auch dieses Werk
mit Klarinette aufzuführen.
Seine zwei Stücke op. 25 widmete Juon Dr. Ernst Orlich, Geheimrat und Inhaber eines Lehrstuhls
an der Technischen Universität Berlin, passionierter Klarinettist und Kammermusikpartner
Juons. Der besonders ausführliche und humorvolle Widmungstext steht quasi als Motto über
den Stücken: «Lieber Orlich! Weil Sie ‹sinnig› sind, wie eine Clarinette in B, hab’ ich Sie lieb; weil Sie auch ‹sonnig› sein können, wie eine Clarinette in A, hab’ ich Sie erst recht lieb, denn ich liebe die Sonne fast noch mehr wie die Sinne; drum dacht’ ich, es wäre nicht unsinnig, Ihnen diese Stücke zu widmen, und hoffe, Sie sehen sie nicht als Sonnenfinsternis an.»
Richard Flury (1896–1967)
Trio in einem Satz für Klarinette, Violoncello und Klavier (1950)
Der 1896 in Biberist bei Solothurn geborene Richard Flury studierte Musikwissenschaft,
Kunstgeschichte und Philosophie an den Universitäten Basel, Bern und Genf. An den
dortigen Konservatorien besuchte er zugleich die Violinklassen von Fritz Hirt, Alphonse
Brun und Paul Miche. Bei Hans Huber, Joseph Lauber sowie Joseph Marx in Wien nahm er
Kompositionsunterricht.
Flury wirkte als Violinlehrer in Solothurn, dirigierte überdies drei Jahrzehnte lang das
Solothurner Stadtorchester und während einiger Jahre auch das Akademische Orchester
Zürich oder den gemischten Chor «Harmonie» in Bern. Als Gastdirigent leitete er
Abonnementskonzerte in Bern und Basel und arbeitete gelegentlich in den Radiostudios
von Zürich und Lugano, wo er meist eigene Werke dirigierte. Dem lebenslang in der
solothurnischen Provinz Tätigen blieb ein grösseres Forum verschlossen, die Bedeutung
Richard Flurys wurde jedoch von vielen prominenten Musikern seiner Zeit wie Hermann
Scherchen, Othmar Schoeck oder Richard Strauss erkannt. 1964 wurde Richard Flury der
Solothurner Kunstpreis verliehen.
Das Klarinettentrio entstand 1950 als Auftragskomposition zum 25-jährigen Sendejubiläum
von Radio Bern. Der Komponist verfasste vor der Uraufführung einen kurzen Einführungstext
für die Schweizerische Radiozeitung: «Auftragsgemäss musste das Trio für Klarinette,
Violoncello und Klavier in einem Satz geschrieben sein und durfte nicht länger als 7 bis
10 Minuten dauern. Es schien angezeigt, den Satz durch einen langsamen Mittelteil zu
unterbrechen, ähnlich wie in der alten italienischen Ouvertüre. Das im 4/4-Takt stehende
erste Allegro entspricht einer kleinen, gekürzten Sonatenform. Daran schliesst sich ein
kontrastierendes Andantino an (im 3/4-Takt) mit einem nachfolgenden, kurzen Presto finale
(im 6/8-Takt).»
Paul Müller-Zürich (1898–1993)
Quartett c-Moll op. 26 für Violine, Klarinette, Violoncello und Klavier (1937/1952/1971)
Paul Müller-Zürich wurde 1898 als Paul Müller geboren. Um Verwechslungen zu vermeiden,
integrierte er seinen Geburtsort später in den Nachnamen. Er studierte am Konservatorium
Zürich bei Philipp Jarnach und Volkmar Andreae; später folgten Studienaufenthalte in
Paris und Berlin. Von 1927 bis 1968 unterrichtete er Theorie am Konservatorium Zürich,
nach dem Rücktritt von Volkmar Andreae auch Komposition und Dirigieren. Während drei
Jahren (1960–1963) war er Präsident des Schweizerischen Tonkünstlervereins (STV) und
zugleich der Schweizer Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM).
Als Lehrer, Dirigent, Komponist und Organisator zählte Müller-Zürich zu den bedeutendsten
Persönlichkeiten im Schweizer Musikleben des 20. Jahrhunderts. 1953 erhielt er den
Musikpreis der Stadt Zürich, 1958 den Kompositionspreis des STV. Obwohl er die stilistischen
Entwicklungen der Zwischen- und Nachkriegsjahre mit Interesse verfolgte, distanzierte er
sich als Komponist davon. «Ich glaube an die Tonalität, an den Dreiklang als Grundlage der
Harmonik, an die sieben diatonischen beziehungsweise zwölf chromatischen Stufen der
Tonleiter.»
Sein Quartett op. 26 entstand 1937, erhielt 1952 einen neuen Schluss und wurde 1971
abermals revidiert. Harmonisch orientiert sich die Partitur weitgehend an der Spätromantik,
satztechnisch aber zeigt das Quartett neobarocke Züge. Deutlich wird dies bereits im
Präludium, während Müller-Zürich seine kontrapunktischen Fähigkeiten im packenden
Scherzo-Finale endgültig unter Beweis stellt. Der Satz ist gespickt mit zahlreichen
Umkehrungen, Kanons und anderen technischen Finessen, die vom Hörer nur am Rande
wahrgenommen werden.
Bernhard Röthlisberger
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